Loveparade 2010 - Oh je...




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Ich mache es kurz: Die Ablehnung der Eröffnung des Loveparade-Verfahrens durch das Landgericht Duisburg am 05.04.2016 ist eine Katastrophe in der moralischen Wirkung auf die Opfer und ihre Angehörigen. Darüber hinaus beschädigt es das Ansehen der Justiz und das Vertrauen in sie in einem Maße, dass man sich zu schämen beginnt.


Die Entscheidung ist aber auch juristisch dermaßen zum Greifen falsch, dass es einem schon fast entgegen schreit. Ich beteilige mich ja normalerweise nicht an Kollegenschelte, aber zu diesem Thema werden in den nächsten Tagen und Wochen sicher so viele falsche Rechtsansichten hinausposaunt werden, dass ein paar Anmerkungen sein müssen.


Zugegeben, §§ 202-204 StPO sind ein extremes Spezialgebiet, welches nur selten eine Rolle spielt. Und ja, ein Gericht macht sich befangen, wenn es erst die Tatsachen selbst ermittelt, die die Wahrscheinlichkeit der Verurteilung begründen. Dann verhält es sich nämlich einseitig zu Lasten des Angeschuldigten, was mit der Neutralität nicht zu vereinbaren ist.


Aber damit hat das Ganze nichts, und auch wirklich überhaupt nichts zu tun.


Der entscheidende Gesichtspunkt lässt sich nämlich extrem komprimiert zusammenfassen: Die Entscheidung des Landgerichts leidet an einem ganz gravierenden Denkfehler. Denn seit wann ist ein Gutachten ein entscheidendes schuldrelevantes Beweismittel im Strafprozess? Das Fachwissen des Gutachters ist es stattdessen, welches er dem Gericht vermitteln muss, wenn es dort fehlt! Und das ist nicht von der Person des Gutachters abhängig, sondern dieses Fachwissen kann (und muss) jeder geeignete SV vermitteln. Und den muss das Gericht selbst auswählen, wenn es den bisherigen nicht akzeptiert. Das ist keine Frage der Besorgnis der Befangenheit, sondern vornehmste Pflicht des über die Eröffnung entscheidenden Gerichts.


Liebes LG Duisburg, habt Ihr §§ 73, 78 StPO nicht gelesen? Es reicht übrigens schon, die Kommentierung vor § 72 StPO im Fischer oder jedem anderen beliebigen StPO-Kommentar zu lesen, da ist alles gesagt. Und da helfen auch keine 460 Seiten Beschluss. Was soll das? Diese Mühe hätte das Gericht besser in die Arbeit in der Sache gesteckt.


Die einzig richtige Entscheidung zu der sofortigen Beschwerde passt auf 1 Seite...


Ergänzung I:


Auch nach dem Studium der vom Landgericht Duisburg freigegebenen Begründung des Beschlusses bleibe ich bei meiner Wertung. Die Kammer hat zwar mit Hilfserwägungen ihre Entscheidung noch weiter zu begründen versucht, auch diese überzeugen aber nicht.


Original siehe hier: Nichteröffnungsbeschluss der 5. Großen Strafkammer


Ein Beispiel (Blatt 27 des Beschlusses):

"Ob und inwieweit im Jahr 2010 unter dem Aspekt einer allgemeinen Verkehrssicherungspflicht unabhängig von fehlenden Vorgaben in DIN-Normen bzw. öffentlich-rechtlichen Vorschriften den Angeschuldigten
J, G, H und I die von der Anklage angenommenen konkreten Sorgfaltspflichten
im Hinblick auf die Frage einer rechnerischen Bemessung
der Durchgangskapazität der (Durchgangs-)Wege des Ein- und
Ausgangssystems der Versammlungsstätte oblagen, kann die Kammer
ohne tragfähige sachverständige Ausführungen nicht aus eigener
Sachkunde feststellen. Weitere Ermittlungen zur Bestimmung des
konkreten Maßes der Sorgfaltspflicht konnten von der Kammer im
Zwischenverfahren nicht durchgeführt werden, denn zu solchen wesentlichen
Ermittlungen ist die Kammer weder berechtigt noch gehalten."
Das ist leider falsch, denn bei den Sorgfaltspflichten handelt es sich nicht um eine Sachverständigenfrage, sondern letztlich um eine Rechtsfrage. Natürlich kann man sich dabei von einem Sachverständigen unterstützen lassen, aber am Schluss muss das Gericht den erforderlichen Grad der Sorgfalt bestimmen und entscheiden, ob diese Pflichten verletzt sind oder nicht. Wer mag, lese bei BGHR unter "Beweiswürdigung, Sachverständiger" nach.


Und das ist auch erheblich, denn damit begründet die Kammer ja gerade, weshalb sie auch unabhängig vom Gutachten des Sachverständigen meint, dass der Schuldnachweis nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit zu führen sein wird (Tatverdacht).


Wer zum gesamten Sachverhalt nachlesen will, dem seien die Seiten der Dokumentation der Ereignisse zur Loveparade 2010 in Duisburg ans Herz gelegt. Diese sind ein sehr beeindruckendes Beispiel dafür, wie die Schwarmintelligenz des Internets Größeres hervorbringen kann als "die Arbeit von 90 Polizeibeamten und 6 Staatsanwälten, die mehr als 3500 Zeugen vernommen und Hunderte Terabyte Daten ausgewertet haben sowie 900 Stunden Videomaterial von Überwachungskameras und Besucherhandys sichteten" (Quelle: RP Online damals bei Anklageerhebung).


Nun hatte die Kammer ja nicht nur die Anklage, sondern auch "die Hauptakte mit mehr als 46.700 Seiten und 99 Aktenordnern, sowie mehr als 800 Ordner mit ergänzendem Aktenmaterial. Man kann darüber streiten, wie 3 Richter das alles lesen und auswerten sollen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antworten auf fast alle relevanten Beweisfragen irgendwo in diesen Unterlagen schlummern, so dass ich die Ablehnung des Tatverdachts durch das LG Duisburg ziemlich kühn finde.


Aber vermutlich trifft die Einschätzung des Prof. Müller im beck-blog es recht gut, die davon ausgeht, dass der Kardinalfehler bereits bei der Staatsanwaltschaft gemacht wurde, die ihre Anklage fehlerhaft nur auf einen Teil der Verantwortlichen beschränkt hatte.


Ergänzung II:

Der Senat des Oberlandesgerichtes Düsseldorf hat wie erwartet entschieden: Die Anklage ist vor dem Landgericht Duisburg zugelassen worden. Der Strafprozess wird noch im Dezember 2017 beginnen.

Wer die Diskussion um die dort relevanten Rechtsfragen weiterverfolgen will, dem sei die hervorragende Zusammenstellung von Herrn Professor Mueller im beck-blog (wird laufend aktualisiert) erneut wärmstens ans Herz gelegt. Dort sind sowohl technischer als auch juristischer Sachverstand in bemerkenswerter Qualität versammelt.

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